Richtig oder falsch tanzen?

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Zur Aufzeichnung von Volkstänzen und Volksliedern

Das folgende gilt genauso für den Volkstanz, wie für die Volkstanzmusik, für die traditionelle bzw. tradierte Tanzmusik, für das Volkslied.

Historisches

Am Ursprung stand die Idee von Stadtbürgern, das Volk durch Musik zu erziehen. Bürger waren es daher auch, die alle erreichbaren Volkslieder und Volkstänze aufschrieben, die in die Dörfer sammeln gingen.

Sie glichen häufig bei der Aufzeichnung alles ihrer Ästhetik an, sie veränderten Mehrstimmigkeit und Intervalle, veränderten bzw. vereinheitlichten auch Tanzrichtung und ähnliches im Tanz – viele Aufzeichnungen zeigen, dass früher andere Aufstellungen und Tanzrichtungen üblich waren, man tanzte etwa in kleinen Stuben nicht im Kreis, sondern wo Platz war. Damit veränderten (verbesserten?) sie die ursprüngliche Überlieferung. Die ersten Volkslieder und Volkstanzmelodien wurden etwa im Klaviersatz veröffentlicht, obwohl in den Dörfern kaum Klaviere zu finden waren. Diese Veröffentlichungen waren für die Stadtbevölkerung gedacht.

Dazu kommt noch, dass dies alles ideologisch aufgeladen war. Ältere Bücher zeigen das genau, häufig im Vorwort. Und damit ist nicht nur die Nazi-Ideologie gemeint. Auch andere Ideologen wählten aus, verharmlosten etwa erotisch gemeinte Wendungen, um sie auch in der Schule verwenden zu können. Sie behaupteten etwa: „Das Volk singt Volkslieder, nur der Pöbel singt Zoten“ und wussten dabei ganz genau, was unter „Zoten“ zu verstehen war. Also alles, was man nicht in der Schule den Kindern lehren konnte – was aber auch heute noch im Landvolk gesungen wird.

Zum Aufzeichner

Die Vorbildung des Aufzeichners spielt eine große Rolle. Ein musikalisch gebildeter Mensch schreibt die Noten, die er hört (oder glaubt, zu hören), wohl so wieder, wie sie seiner Meinung nach im „richtigen Satz“ sein müssten. Besonders da er ja immer unter Zeitdruck war, da es ja kaum mechanische Aufzeichnungsmöglichkeiten gab. Das ist auch beim besten Wollen nicht unbedingt genau das, was der Überlieferungsträger oder das Vorbild tatsächlich gespielt hat. Etliche Tanzbeschreibungen zeigen ebenfalls dieses Problem.

Dazu kommt noch, dass den älteren Volkstanzaufzeichnern die Tanzbewegungen wichtiger waren als die Melodien, und dass Audio-Aufnahmen und schon gar Videos kaum möglich waren, oder nur sehr eingeschränkt. Volkstänze wurden häufig nach damals aktuellen Schlagern getanzt, die die Volkstanzaufzeichner nicht des Aufzeichnens Wert fanden. Die Aufzeichner (August Schmitt, Raimund Zoder und andere) schrieben halt andere Melodien dazu, möglicherweise aus einer ganz anderen Region, die aber ihrer Meinung nach passten. Siehe etwa beim Rosenwalzer unter „Zur Melodie-Aufzeichnung“.

Ich selbst transkribiere viel, erfahre dabei immer wieder, dass das, was ich glaube, zu hören, nicht dem entspricht, was andere glauben, herauszuhören, oder gar dem, was derjenige, der es spielte, glaubte zu spielen. Ein konkretes Beispiel ist der Orgelboarisch. Ich lernte ihn vor vielen Jahren nach einer LP der Familie Zwanzleitner, die ihn nach dem Komponisten Tobi Reiser spielte. Herbert Krienzer vom Steirischen Volksliedwerk transkribierte ihn ebenfalls, offensichtlich von der gleichen LP. Die Familie Zwanzleitner hat ihre Spielart inzwischen etwas geändert, wenn ich das Stück heute wieder von ihnen höre, sind das mit dem komplizierten Satz Reisers insgesamt genau sechs für mich erkennbar unterschiedliche Versionen, da auch ich meine Spielart in den vielen vergangenen Jahren geändert habe.

Zum Überlieferungsträger

Eine Tanzaufzeichnung kann immer nur eine Momentaufnahme sein, wie ein bestimmter Tanz an einem bestimmten Ort von einem bestimmten Überlieferungsträger zu einem bestimmten Zeitpunkt getanzt wurde. Ein Tanz wurde im Nachbarort oft anders getanzt, womöglich wurde er im selben Ort von verschiedenen Tänzern unterschiedlich getanzt, wie etwa die Aussage Karl Horaks beim Landlerisch aus Deutsch-Mokra deutlich macht. Ich kann mir sogar vorstellen, dass ein Tänzer je nach Gelegenheit und Laune unterschiedlich tanzte. Manchmal ist das in Aufzeichnungen sogar angegeben. Ich meine aber, das war öfter der Fall, als es angegeben ist. Auch das Alter des Überlieferungsträgers spielt eine Rolle. Ein 20-Jähriger erklärt anders als ein 80-Jähriger, da er ja anhand seiner eigenen Fähigkeiten erklärt (Siehe etwa Siebentätzler). Ich selbst könnte etliche Tänze nicht mehr vorzeigen, die ich in der Jugend gern getanzt habe. Auch die Erinnerungsfähigkeit eines älteren Menschen ist nicht immer perfekt, wie ich an mir selbst merke.

Übrigens, mir ist auch die immer wieder beschworene „Gestaltungskraft des unverbildeten Volkes“ etwas suspekt. Hat wirklich das Volk die vielen verschiedenen Mazurkaformen gestaltet? Oder waren es nicht doch örtliche Tanzlehrer? Oder auch dörfliche Möchtegern-Tanzlehrer? Die tun das bei den Gesellschaftstänzen übrigens heute noch.

Was nie aufgezeichnet wurde

Die Aufzeichner waren teilweise so genau, wie es ihnen möglich war. Sie schrieben alles auf, was ihnen aus wissenschaftlichen oder sonstigen Gründen wichtig erschien, Alter und Beruf des Überlieferungsträgers, sogar seine Eltern, die Haltung beim Tanz, den Tanzort, die Tanzgelegenheit und vieles andere.

Eines vermisse ich immer: Eine nachvollziehbare Begründung, warum dieser Tanz getanzt wurde, oder vielleicht sogar gern getanzt wurde.

Das wurde bestenfalls mit Tradition überschrieben. Aber warum wurde etwa einer Kreuzpolka oder Mazurka Tradition, sogar „uralte Tradition“ zugesprochen? Das waren doch überwiegend nicht gar so alte Modetänze.

Eine Begründung wurde meist schamhaft verschwiegen oder höchstens angedeutet: In vielen älteren Schriften oder Predigten wurde gegen das „schamlose“ Tanzen gewettert, das zu „Unkeuschheit“ verführe. In heutiger Sprache würde ich das als Partnerwahl oder Partnersuche beschreiben. Das war natürlich unter den jungen Leuten immer ein wesentlicher Grund auch für das gemeinsame Tanzen. Aber war es der einzige Grund? Auch bei nicht mehr so jungen, die ihren Lebenspartner bereits gefunden hatten?

Ich meine, Tanzen war immer etwas, das man machte, weil es Freude bereitete. Danach wurde aber keiner der vielen Überlieferungsträger je gefragt. Und daher steht es in keiner einzigen Tanzbeschreibung. Etwas deutlicher schreibt dies Herbert Zotti weiter unten.

Und heute

Das alles passiert heute noch genau so. Etwa wird die ursprünglich fast ausschließliche Zweistimmigkeit der Volksmusik gar nicht so gerne gesehen. Jedes Lied muss heute drei- oder vierstimmig gesetzt sein, im Chorsatz. Auch deshalb veröffentliche ich hauptsächlich zweistimmige Melodien bzw. Lieder, allerdings mit Harmonie-Angabe, da das Hören von Harmonien heute kaum mehr trainiert wird.

Auch einzelne heutige, vorher gut geprobte Tonträger sind Momentaufnahmen, sie entstanden meist nicht zur Dokumentation des Stiles, sondern zum Verkauf (Simon Wascher), aber natürlich auch zur Demonstration der eigenen Kunstfertigkeit.

Und immer wieder wird die Tradition hervorgehoben, alles muss punktgenau so geschehen, wie es angeblich immer war, Änderungen oder gar Neuinnovationen sind gar nicht so gerne gesehen oder werden sogar abgelehnt.

Und dass Tanzen oder Singen Freude macht, sogar Freude machen sollte, hört man kaum irgendwo.

Regeln

In meiner Online-Volksmusikschule habe ich einen Artikel über meine Regeln in der Volksmusik geschrieben, die größtenteils auch für den Volkstanz gelten. Dort steht unter anderem:

Ist es richtig, wenn ich mich genau an die überlieferten Noten halte?

Meine Antwort lesen Sie in der Online-Volksmusikschule.

Von der Freiheit eines Volkstanzmenschen

Unter diesem Titel hat Herbert Zotti in der Zeitschrift „Fröhlicher Kreis“ 1-1999 ab Seite 2 einen lesenswerten Artikel geschrieben. Ich habe ihn hier sehr gekürzt. Bitte lesen Sie ihn dort.

Zotti meint:

Die Quellenlage ist beim „Volkstanz“ schlecht. Wenn die jeweilige Kreation gut, interessant, unterhaltsam genug war, hat sie sich verbreitet. Und wurde dadurch zur Tradition.

Zur Genauigkeit: Ist schon bei der Musik die Notation nur eine „Krücke“ und kein adäquates Abbild, gilt dies bei Bewegungsbeschreibungen umso mehr. Natürlich darf man auch etwas detailskeptisch sein, wenn sich ein 80-jähriger Überlieferungsträger Tänze aus seiner Jugend erinnert und diese zeigt (siehe Siebentätzler, FF). Aber auch bewusste „pädagogische“ Eingriffe (wie auch bei Volksliedaufzeichnungen) hat es gegeben, um „Derbheiten“ oder sonstwie unpassend erscheinende Elemente zu eliminieren.

Die Tanzaufzeichnung, vor allem mit Film und Video, friert den augenblicklichen Entwicklungsstand einer langen Überlieferungskette ein. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn wir nicht gewohnt wären, eine bestimmte Tanzausführung mit den Etikettierungen „falsch“ oder „richtig“ zu versehen.

Wieso reichen den Volkstanzhardlinern ihre 187 Tänze nicht aus? Wieso haben andererseits nichtvolkstanzende Gerntänzer mit 10 bis 15 Standardtänzen ihr Auskommen und ihre Gaude?

Die Antwort ist verblüffend einfach: gute Tango-, Boogie-, Samba- oder sonstwie- Tänzer lieben die Bewegung, den Partnerbezug, die eigene, unverwechselbare Körpersprache, die Sinnlichkeit des Tanzes. Nicht die Angst, „alles richtig zu machen“, ist das vorherrschende Element.

Also: Wo sind die Paare, die „frei“ Landler tanzen und nicht dauernd danach Ausschau halten, was die anderen tun?

Soweit ein Auszug des Artikels von Herbert Zotti aus dem Jahr 1999.

Zu diesem Aufsatz (Franz Fuchs)

Einiges darin passt recht gut zu meinen Überzeugungen, aber der Grundtenor ist wohl seit der Jahrtausendwende etwas überholt:

Den „Volkstanzboogie“ (alias Attergauer Boarisch) tanzen wir seit Jahrzehnten mit einer Boogie-Figur.

Etliche Neuschöpfungen haben es bereits bis in die Wiener Tanzkreise geschafft, nicht nur aus Norddeutschland, wo so etwas immer schon üblich war, auch aus Kärnten (Da Ausegrosa, Handy Mazur und andere, oder aus Niederösterreich (Kreiswoaf), um nur einige zu nennen.

Sogar die Bundes-Arbeitsgemeinschaft verbreitet seit einiger Zeit unter anderem bei ihren Tanztagen das freie Tanzen zu Ländler, Mazurka oder Boarisch (Simon Wascher). Bei ihm lernt man etwa die „gute Beherrschung der Formen“, die ich aber gar nicht so wichtig halte. Man könnte auch diese „Formen“ selbst gestalten.

Und auch die Zeitschrift der BAG, der Fröhlicher Kreis bringt die Tanzbeschreibung von derartigen neuen Tänzen, etwa Da Aufgedrahte, ein netter, neu gestalteter Tanz aus Kärnten.

Zusammenfassung

Ob Volkstanz- oder Volksliedaufzeichnungen immer genau richtig sind, möchte ich sehr bezweifeln. Aber natürlich verwenden wir sie, wir haben ja nichts anderes.

Dass gewisse Neueinführungen – Tanzen im Kreis, in Tanzrichtung, mit Tänzer innen im Kreis, Kennmelodie zu jedem Tanz – sich vereinheitlicht haben, ist ja recht brauchbar, auch wenn es in der Überlieferung anders war.

Da wir aber heute wissen, wie fragwürdig diese Aufzeichnungen teilweise sind, könnten wir sie auch zumindest teilweise an die heutigen Gegebenheiten anpassen. Nichts anderes haben unsere Altvorderen mit den ihnen irgendwie gelehrten Gesellschafts- oder Modetänzen gemacht.

Dieser Artikel klingt im Nachhinein etwas negativ. Aber ich bin seit vielen Jahrzehnten ein begeisterter Volkstänzer und werde es sicher bleiben.

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