Volkstanz zwischen den Zeiten – Diskussion: Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 6. September 2013, 13:51 Uhr
Das von Waltraud Froihofer herausgegebene Buch führt zu zahlreichen Diskussionen. Für eine öffentliche Diskussion führe ich hier ein Forum ein.
Beim mehrfachen Lesen des Buches kamen mir viele Gedanken. Einige davon sind äußerst positiv. Es steht vieles in dem Buch, das für heutige Volkstänzer wichtig wäre, und daneben, aber viel zu sehr im Vordergrund, viele, viel zu viele Teilwahrheiten. Der Grundtenor des Buches ist leider negativ und besserwisserisch.
Ohne Anspruch auf Vollständigkeit möchte ich hier einiges aus meinen Eindrücken aufzeigen und zur Diskussion stellen.
Das Buch ist veraltet
In der Website der BAG steht bei den Büchern: Wichtig: Grundsätzlich empfiehlt sich, Veröffentlichungen, deren Ersterscheinung vor über 20 Jahre erfolgte, kritisch auf ihre Aktualität zu prüfen. Dies gilt besonders für die darin enthaltenen theoretischen Überlegungen und Thesen.
Ich behaupte nun, jedes Fachbuch ist bereits bei seinem Erscheinen veraltet, neueste Erkenntnisse, die vielleicht erst durch das Buch auftauchen, können nicht mehr eingearbeitet werden, und das gilt im Besonderen auch für dieses Buch. Dies zeigt auch die angeregte Diskussion. Ich werde nun versuchen, diese Behauptung zu untermauern.
Druckfehler
In diesem Buch gibt es viele, oft harmlose Druckfehler, die niemand mehr ausbessern kann. Das wäre im Internet leicht möglich. Einen wesentlichen hat die Mitautorin Hadmut Glatz aufgezeigt:
Bei meinem Text ist durch die Lektorin ein Gedankenfehler passiert. In Seite 279 steht: Im Allgemeinen war Lager aber der Meinung, dass der Kindertanz nichts für Volkstänzer sei. Es muss aber umgekehrt heißen: Im Allgemeinen war Lager aber der Meinung, dass der Volkstanz nicht für Kinder sei.
Autoren
An diesem Buch haben viele Autoren mitgewirkt. Ich habe bei derartigen Büchern immer das Gefühl, sie bestehen aus einer Ansammlung von persönlichen Meinungen, die zwar wissenschaftlich begründbar sind, aber nicht aufeinander abgestimmt. Das führt unweigerlich zu Widersprüchen. Es gibt keine Zusammenschau, einzelne Autoren vertreten auch gegensätzliche Meinungen mit dem Anspruch der wissenschaftlichen Wahrheit.
Widersprüche
Das Buch strotzt vor Ungenauigkeiten, Widersprüchen, Halbwahrheiten, unzulässigen Annahmen. Ich kann hier nicht alle anführen, bringe daher nur Beispiele.
Raimund Zoder
Auf Seite 12 steht etwa über Raimund Zoder: Heute empfinden wir diese Ideengebäude als eher bizarr und abzulehnen, …. Das wird dann auf vielen Seiten in mehreren Kapiteln in äußerst negativer Art versucht, mit Sachbeweisen zu untermauern. Allerdings steht dann auf Seite 217, dass das Österreichische Volksliedwerk heute noch (2009) ganz im Sinne von Raimund Zoder arbeite.
Was also? Arbeitet das Volksliedwerk nach bizarren Ideengebäuden? Oder ist das Wort bizarr vielleicht doch etwas zu übertrieben formuliert? Hatte Zoder vielleicht doch nicht ausschließlich bizarre, heute nicht mehr zeitgemäße Ideen?
Hermann Lein
Auf Seite 11 steht: Auf der (politisch?) anderen Seite stand … Hermann Lein – ohne zu präzisieren, was an dieser Aussage für uns Volkstänzer Wichtiges sein könnte.
Auf Seite 76 wird Lein wegen seiner politischen Ansichten positiv erwähnt, dafür wird auf Seite 70 von der gleichen Autorin der von ihm 1946 initiierte Kathreintanz in den negativen Zusammenhang von mehreren Seiten Ausführungen über die Nazi-Ideologie gestellt.
Nirgends wird erwähnt, dass Lein trotz (oder wegen?) seiner politischen Ansichten als katholischer Widerstandskämpfer die (bizarren?) Ansichten seines Freundes Raimund Zoder teilte.
Richard Wolfram
Auf Seite 12 steht über Richard Wolfram: hatte keine theoretische Basis mehr, nicht einmal eine bizarre. Diese nicht vorhandene theoretische Basis wird dann auf etlichen Dutzend Seiten zerpflückt.
Wichtig sind den Autoren nicht seine Leistungen, die ja alle zu hinterfragen sind. Tatsächlich hinterfragt wird nur die bei ihm zweifelsfrei festgestellte Nazi-Ideologie.
Gründung der BAG
Auf Seite 239 steht in sehr negativ wirkendem Zusammenhang: Um die Verbindungen (Wolframs) zu Kollegen weiterhin zu wahren und zu pflegen, wurde beschlossen, einen Verein zu gründen. Und so gründeten die volkstanzbegeisterten Herren … die Österreichische Bundesarbeitsgemeinschaft für den Volkstanz und weitere Herren, die für das SS-Ahnenerbe tätig waren.
Das mag sogar damals mitgespielt haben, aber dass die Verbindung Wolframs zu Kollegen der einzige und alleinige Grund für die Gründung der BAG war, ist höchstens eine unzulässige Halbwahrheit. Jedenfalls waren damals mindestens zwei volkstanzbegeisterte Herren dabei, die auch laut dem Buch nicht zu den Freunden Wolframs gehörten.
Nazi-Ideologie
Im Buch wird angeführt, etliche Volkstanz-Forscher waren Nazi, sogar bevor es die Nazi überhaupt gab. Ihre Forschungen seinen daher dringend zu hinterfragen. In Ordnung. Aber – im Buch wird nichts hinterfragt.
Die Nazi-Ideologie war und ist eine verbrecherische Ideologie. Das heißt aber nicht, das alles und jedes, das aus dieser Ideologie entstand oder in ihr auch nur verwendet wurde, automatisch schlecht wäre.
Ein Beispiel: Hitler ließ Autobahnen bauen, um für seine verbrecherischen Kriege die Heere schnell von A nach B zu schicken. Dürfen wir daher heute Autobahnen benutzen oder müssen wir sie hinterfragen? – Ja! Hinterfragen schon! Aber heute aus einem anderen Grund: ob es sinnvoll ist, darauf Erdäpfel von Norddeutschland nach Italien zum Schälen zu karren oder auch nur die Tante Lintschi zum Sonnenuntergang in die Alpen.
Eine Autobahn ist heute nicht mehr ein Kriegsinstrument, sondern verursacht vermehrte Abgase und vermehrten Erdölverbrauch. Das sind unsere heutigen Sorgen, die haben aber nichts mehr mit Nazi-Ideologie zu tun.
Im Buch kommt leider viel zu wenig heraus, dass all die auch skurrilen Ansichten, die als Nazi-Ideologie behauptet werden, damals und schon lang vor den Nazis möglicherweise anerkannter Stand der Wissenschaft oder zumindest allgemein verbreitet waren (siehe Beitrag von Hadmut Glatz weiter unten) und von den Nazis nur benutzt wurden. Sie sind heute überholt und sollten hinterfragt werden, was das Buch leider nicht tut.
Ich hoffe nur, dass unsere Enkel in 50 Jahren mit dann neueren Erkenntnissen nicht auch unsere Ansichten so negativ bewerten und aburteilen.
Das Buch regt immer wieder an, altüberlieferte Ansichten zu hinterfragen. Oftmals steht bei Zoder, Lager, Wolfram und anderen, ihre Forschungen seien aus heutiger Sicht zu hinterfragen. Das ist in Ordnung, das unterstütze ich sehr. Aber – das Buch hinterfragt genau nichts.
Mit einer Ausnahme:
Das Alte und das Echte
Dies ist fast der einzige wirklich positive Beitrag im ganzen Buch.
Herbert Zotti hinterfragt auf den Seiten 169 und 170 im kürzesten Beitrag des Buches diese beiden Begriffe mit Streifzügen nach überliefert und Kommerz. Seine pointierte bis zynische Art kann man mögen oder nicht. Aber er hat einfach recht mit allem, was er schreibt, und das, ohne irgendwelche historischen Personen, die sich nicht mehr wehren können, anzupatzen. Im Gegenteil, er nennt keinen einzigen Namen, aber jeder weiß, was gemeint ist.
Kommentar von Hadmut Glatz im fröhlichen kreis 2013/3
Hadmut Glatz hat mir im Mai folgenden Kommentar geschickt:
Anmerkung zum Artikel: Volkstanzkultur im Schnittpunkt von Pflege, Forschung und staatlichen Interessen. Teil 2. Waltraud Froihofer
Mein ganzes Berufsleben habe ich als Lehrer und Erzieher mit Jugendlichen gearbeitet. Da passt für mich sehr gut die Aussage von Bischof Stecher in seinem Buch Spätlese: Bei der Jugendarbeit sind mir die Berge zu Hilfe gekommen ... sie bieten rauschhafte Erlebnisse, wie sie die Jugend braucht.
Auch ich meine, dass die Jugend Erlebnisse in der Gemeinschaft braucht, für mich ist Gemeinschaft ein positiver Wert.
Bei Froihofer wird dieser Ausdruck negativ gebracht. Sie schreibt (S 69): Volkstanz ist Ausdrucksmittel von Gemeinschaft. Der Tanzkreis ist umlegbar auf die große Gemeinschaft, die Volksgemeinschaft.
Zoder und Lager (S 69) bekennen sich zu: Volkstanz ist Ausdrucksmittel von Gemeinschaft. Hier ist Gemeinschaft positiv gemeint.
Froihofer geht so weit das sie schreibt: Der Volkstanz wurde nicht vereinnahmt, er war ein Teil des Systems.
Ich habe ein Zeitproblem.
Die Volkstanzaufzeichnungen von Zoder sind älter als das nationalsozialistische System.
Was ist bei Lager anzuprangern wenn er auf den Aufzeichnungen von Zoder basierend die österreichischen Grundformen des Volkstanzes veröffentlichte, die sich in den Gemeinschaftstänzen 1969 wiederholen.
Froihofer: (S70) die Tanzauswahl erfuhr über die politischen Umbrüche hinweg keine kritische Befragung.
Zur Auswahl des Tanzgutes
Wenn Richard Wolfram 1951 schreibt : Modern tanzen sei Geschmacksverwirrung und Kulturverfall der weißen Menschheit, so finde ich das arg. Aber ähnliche Gedanken findet man auch bei Böhme (S316). Wir sind nach 1945 ja geradezu geschult worden in Jazzdance, Afrodance usw. Wir spüren aber schnell eine Schranke, wenn wir die Handbewegungen einer indischen Tänzerin nachmachen sollen.
Dürfen wir nicht die Tänze tanzen, die bei uns aufgezeichnet worden sind?
Böhme schreibt in „Geschichte des Tanzes in Deutschland“ 1886, Nachdruck 1996 auf Seite 4: Jedes Volk hat seine Tänze, darin sein eigenartiges Naturell ausgedrückt und sein Volkscharakter abgespiegelt wird.
Mythologie
Böhme schreibt (S 23): Das zum Christentum bekehrte deutsche Volk tanzte trotz aller kirchlichen Verbote seine alten Tänze sogar oft mit ihren alten Texten noch lange fort ... und weiter: Unsere Kinderreigen sind – wenn auch verstümmelt – Überreste altheidnischer Reigen. Als Beleg für die Stellungnahme der Kirche (S 82): Bruder Berthold von Regensburg predigte 1272: Das Tanzen an Sonn- und Feiertagen ist eine Todsünde.
Dazu passen Böhmes Aussagen über einzelne Tänze.
(S155) Der Siebensprung stammt jedenfalls aus der Heidenzeit und war ein Opfertanz der Germanen zur Frühlingsfeier.
(S158) Die Echternachter Springprozession ist der Überrest eines altheidnischen Tanzes zur Frühlingszeit. Der Ursprung ist
- a) Die Abwendung einer Seuche beim Vieh.
- b) Die Abwendung einer Veitstanz Epidemie.
- c) nach Simrock ein heidnischen Siegesfest des Sommers.
Jöde schreibt in seinem Buch: Ringel Rangel Rosen (1913)
Ringel Rangel Rosen (S 135): Ist der Überrest eines Opfertanzes. Das Niederfallen im Kinderreigen ist gewissen Zeremonien der Götteranrufung ähnlich.
Wir treten auf die Kette (S 137) Vielleicht der Überrest eine alten Chorreigens.
Ting tang Töchterlein: (S 144): Engelland, das himmlische Lichterreich ist zuzeiten verschlossen. Die Dämonen des Winters halten Holda und die Seelen der Verstorbenen gefangen. Im Frühling wird die Göttin befreit.
Brückenspiele (S 149) Jöde schreibt: Laut Rochholz (Alemannisches Kinderspiel 1857) führen die Brückenspiele auf eine mythologische Grundlage zurück. Der Sinn des Spieles bezieht sich auf den Heidenglauben vom Ritt der Toten über die Totenbrücke, welche die Gewässer zwischen Menschenwelt und Totenreich überbrückt. Aus dem Altertum her spinnt sich dann der Volksglaube vom Streit der Engel und Teufel am Sterbetag um die Seele.
Haiding (geb. 1907) zeichnet Tänze, Kindertänze und Kinderspiele auf. Diese Aufzeichnungen liegen in Salzburg und sind immer noch nicht zugänglich.
Froihofer schreibt über das Jahr 1935 (S70): dennoch pflegte Haiding schon damals ideologisch Verbindung zu Hitlerdeutschland.
Zu diesem Zeitpunkt (1935) war die NSDAP in Österreich verboten. Ich frage mich, inwieweit man sich damals frei äußern konnte ohne im Gefängnis zu landen.
Interessant ist Haidings Meinung aus dem Buch Kinderspiel und Volksüberlieferung (1939): Folgende Elemente des Kindertanzes sollen in Bezug auf ihre Bedeutung genauer untersucht werden: die Lachvermeidung, das Springen über den Strich, das Laufen durch die Reihe der Schlagenden, der Überfall der Hunde, die Stellung von Engel und Teufel, die Befragung des Weggeholten, das Spiel von der gebrochenen Brücke, die Bedeutung von Reihe und Kette.
Er schreibt im Vorwort: Jene Spiele, die einst den Kern des germanischen Festes bildeten, sind so lange durch Verbote und strenge Strafen verfolgt worden, bis nur wenig davon im Besitz der Erwachsenen verblieben ist. Vieles hat sich aber zu den Kindern gerettet und ermöglicht so einen aufschlussreichen Einblick in unser ursprüngliches bodenständiges Spielgut.
Haiding war Nationalsozialist. Aber was ist neu in seiner Auslegung? Was haben nicht schon Rochholz, Böhme und Jöde vertreten?
Ich weiß bis heute nicht, ob man in Österreich vom Nationalsozialismus erst seit 1938 spricht oder schon zu der Zeit, wo die Partei verboten war. Hat zum Beispiel der Ausschluss der Sektion Donauland 1924 aus dem Alpenverein etwas mit dem Nationalsozialismus zu tun? War Karl Renner Nationalsozialist? Er hat 1920 die Regierung dazu aufgerufen „die Judenfrage zu klären“.
Ich finde es großartig, dass endlich die Aufarbeitung dieser Zeit in Angriff genommen wurde und ich möchte Frau Froihofer für ihre Arbeit danken.
Schade nur, dass in diesem Buch nicht zwischen wissenschaftlicher Arbeit und der Auslegung im Sinne des Nationalsozialismus unterschieden wurde.
Hadmut Glatz
Der Kommentar darf umformuliert werden. Der Text soll zu einem Gespräch mit Frau Froihofer dienen.
weitere Rückmeldungen im fröhlichen kreis
In der Zeitschrift fröhlicher kreis der BAG wurden etliche Artikel zu diesem Buch veröffentlicht. Sie sind auch im Internet zu finden:
- Im fröhlichen kreis 2012/3 stellt Helmut Jeglitsch auf Seite 6 das Buch erstmalig vor.
- Im fröhlichen kreis 2013/1 schreibt Susanne Schedtler eine längere Einführung zum neuen Buch.
- Im fröhlichen kreis 2013/2 schreibt Iris Mochar ab Seite 6 über die Tracht.
- Im fröhlichen kreis 2013/3, den ich demnächst ins Internet stellen werde, steht auch ein Leserbrief von Hella Wald über die Person Richard Wolfram
Vergangenheitsgespräch
Einladung zum Vergangenheitsgespräch
9. + 10.11. 2013, Bad Ischl, Hotel „Goldenes Schiff“
Das Buch „Volkstanz zwischen den Zeiten“, herausgegeben von Mag. Waltraud Froihofer, hat große Aufmerksamkeit und Zustimmung erregt. Aber auch erheblichen Widerspruch ausgelöst. Wir möchten in einer Tagung die wesentlichsten offenen Fragen aufgreifen und diskutieren. Dazu stehen uns hervorragende Referenten bzw. fachliche Begleiter zur Verfügung:
- Dr. Lothar Höbelt, Professor für Neuere Geschichte an der Univ. Wien
- Dr. Justin Stagl, Em. Prof. für Soziologie an der Univ. Salzburg
- Dr. Elsbeth Wallnöfer, Volkskundlerin & Philosophin
Näheres in der Einladung
Aufarbeitung im Internet
Ich habe vor, in Dancilla nach und nach einiges von der im Buch geäußerten Kritik aufzuarbeiten. Ich würde mich da über fachkundige Hilfe sehr freuen.
Beginnen möchte ich mit der Seite Von Volkstanzleitern gestaltete Tänze
Ihre Beiträge
Hier warte ich auf Diskussionsbeiträge, auf kritische Gedanken von Lesern oder auf erklärende Beiträge von Historikern.
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